Mehr sein als scheinen
Vielleicht habt Ihr ja Papis Beitrag „Als Papi …“ unten rechts auf meinem Startbildschirm gelesen. Dann wisst Ihr bereits, dass der Satz Mehr sein als scheinen zu meinen und zu Papis Leitsprüchen gehört. Darauf will ich heute näher eingehen.
Ein Zitat aus dem Briefwechsel des Malers Vincent van Gogh (1853 bis 1890) soll am Beginn stehen. Vincent schrieb 1880 an seinen Bruder Theo: „Mancher hat ein großes Feuer in seiner Seele, doch niemand kommt jemals, sich daran zu wärmen; und die Vorübergehenden gewahren nur ein klein wenig Rauch oben über dem Schornstein und gehen ihres Weges von dannen.“ Zwar ist grad Hochsommer und es gibt generell nicht mehr so viele rauchende Schornsteine: Aber irgendwie kommt dieses Zitat meiner wohl eher romantischen Auffassung von Mehr sein als scheinen recht nahe.
Doch wie viele von Euch Menschen plustern sich ohne Hemmungen und voller Geltungsdrang auf! Nehmen sich und ihr Tun überwichtig, sind mit dieser ständigen Wichtigtuerei aber nur eines: nämlich unangenehm und peinlich. Mich jedenfalls könnt Ihr mit großen Auftritten auf tönernen Füßen nicht beeindrucken. Und so manches Herz, in das ich schaute, war leer. Ich liebe die Zurückhaltung. Mir liegen diejenigen Menschen und Bären am Herzen, die mehr sind, als es zunächst scheint. Noch nie habe ich einen sich aufplusternden Teddy gesehen!
In Papis kleinem altem Buch Zitate und Sprichwörter von A–Z aus dem Jahr 1982 ist die Sache ganz einfach: Mehr sein als scheinen ist demnach einfach ein „alter Wahlspruch“. Da wäre ich jetzt also fertig mit meiner kleinen Erörterung. Auch dem 1981 in zweiter Auflage erschienenen Buch Zitate, Redensarten, Sprichwörter des deutschnationalistischen Gelehrten Lutz Mackensen (1901 bis 1992) zufolge ist Mehr sein als scheinen! eine alte Lebensregel. Diese ist laut Mackensen durch den deutschen Generalstabschef und Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (1800 bis 1891) und seinen Generalstab „wieder verbreitet“ worden.
Der Duden Band 12 Zitate und Aussprüche (2. Auflage, Mannheim 2002) informiert wesentlich ausführlicher und anders: In einer Rede aus Anlass seines 40. Dienstjubiläums hat sich demnach der preußische Generalstabschef und spätere Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen (1833 bis 1913) im Jahre 1903 der Wendung Mehr sein als scheinen bedient. Von Schlieffen empfahl sie den Generalstabsoffizieren als Wahlspruch. Kein Wort verliert der Duden allerdings darüber, dass der Spruch ein paar Jahre später auf den Klingen der Nazi-Schergen eingraviert war. Genauer gesagt auf den Dolchen der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, also den sogenannten „Eliteschulen zur Heranbildung des nationalsozialistischen Führernachwuchses“. Das ist so grausam gewesen wie es klingt, und einige Menschen wollen meinen Leitspruch seit dieser unseligen Zeit nicht mehr hören.
Doch zu Recht erklärt der Duden im Folgenden, dass „[d]er in dem Wort enthaltene Aufruf zu größerer Bescheidenheit […] in ähnlichen Formulierungen bereits im Schrifttum der Antike“ belegt ist, beispielsweise bei Aischylos (525/524 bis 456/455), Xenophon (um 426 bis um 355) und Platon (427 bis 347; in anderen Quellen wird der von 234 bis 149 vor Eurer Zeitrechnung lebende Cato der Ältere als Urheber genannt). Auch später tauchte nach Informationen des Duden das Mehr schein als scheinen immer wieder auf, etwa als Wahlspruch verschiedener Adelsgeschlechter.
Also, ich heiße zwar nicht Bryan von Schneider-Andergast, aber dies ist und bleibt einer meiner Leitsprüche: Mehr sein als scheinen. Basta. Und wenn Ihr mich nun wegen meiner angeblich preußischen Tugend ärgern wollt, dann packe ich Euch mit einem zweiten Zitat von Vincent van Gogh am Schlafittchen: „Ein Mensch, der sich nicht klein fühlt, der nicht erfasst, dass er ein Stäubchen ist, wie irrt er sich im Grunde …“