Die Legende von den Kugelmenschen
Der Papi hat mir erzählt, dass Euer neuer Wirtschaftsminister (lest ruhig auch meinen kleinen Bericht über den alten …) in Urlaub gefahren ist. Und zwar mit Platons Hauptwerk Politeia (auf Deutsch: Der Staat) in der Originalsprache im Reisegepäck. Hoffentlich wird ihm dieses Buch nicht am Urlaubsort entwendet. Sonst höre ich’s garantiert viele Tage lang im Blätterwald rauschen: Ein deutscher Minister habe sich den Staat klauen lassen! Bei dieser Gelegenheit liebe Grüße an meine Schildkrötenfreundin. Die heißt Ulla und ist gepanzert.
Nun aber schnell zum Thema: Eine meiner Lieblingsgeschichten des griechischen Philosophen Platon (427 bis 347 vor Eurer Zeitrechnung) steht nicht in der Politeia, sondern in seinem später entstandenen Werk Symposion (Das Gastmahl). Während eines ausgiebigen Trinkgelages debattieren ein paar Männer über die Liebe. Normalerweise kommt dabei ja nicht viel heraus. Aber in diesem Falle macht die Rede eines gewissen Aristophanes die Anwesenden mit der Legende vom Kugelmenschen vertraut.
Euer Bryan lässt es sich nicht nehmen, diesen weltberühmten Mythos in aller Kürze nachzuerzählen. Ursprünglich gab es demnach auf der Welt dreierlei Sorten von Kugelmenschen. Diese komischen Kugeln hatten jeweils vier Arme, vier Beine, zwei Gesichter und – das ist von entscheidender Bedeutung! – zwei Geschlechter. Der Erde entstammten diejenigen Kugeln mit „weib-weiblichem“ Geschlecht. Die Kugelmenschen mit „mann-männlichem“ Geschlecht kamen dagegen von der Sonne (wo es bekanntlich sehr heiß hergeht). Ausgerechnet von meinem geliebten Mond aber stammten die Kugeln mit „mann-weiblichem“ Geschlecht. Die drei verschiedenen Geschlechter kugelten sich nun im Lauf der Jahre immer übermütiger, ein uraltes Motiv Eurer menschlichen Überheblichkeit. Bald schäumte Göttervater Zeus vor Wut und hatte eine Idee: „Ich haue jetzt alle Kugeln mitten entzwei!“
Und mit einem Schlag verdoppelte sich wohl zum einen die Zahl der ihn Anbetenden. Zum anderen aber kam laut der Legende erst auf diese Weise die Liebe in die Welt der nun geteilten Seelen. Die Liebe oder auch: die Tragödie der Suche nach der verloren gegangenen Hälfte, das Verlangen nach Wiederherstellung der ursprünglichen Natur. Denn natürlich wird nicht irgendeine andere Hälfte gesucht, sondern die „eigene andere“: Erdfrau sucht Erdfrau, Sonnenmann sucht Sonnenmann, Mondmensch sucht Mondmensch! Hört Euch Aristophanes’ Worte an:
Der Grund hiervon nämlich liegt darin, dass dies unsere ursprüngliche Naturbeschaffenheit ist, und dass wir einst ungeteilte Ganze waren. Und so führt die Begierde und das Streben nach dem Ganzen den Namen Liebe. Und vor Zeiten, wie gesagt, waren wir eins; nun aber sind wir um unserer Ungerechtigkeit willen getrennt worden von dem Gott.
Doch warum, lieber Platon, sind Deiner Legende zufolge nun so unverhältnismäßig viele Menschen vom Mond?! Bloß gut, dass ich nur ein Bär bin. Nachher werde ich mich sicher wieder mit Prinzchen kugeln. Da kommt dann hoffentlich niemand auf die Idee, die Legende von den Kugelbären zu erfinden.