Vittorio macht Bären froh
… und die Menschen ebenso! Für uns Freunde in der Bärenrunde begann und beginnt das Jahr 2011 sehr festlich. Das liegt aber nicht daran, dass sich der Papi nach der feierlichen Weihnachtszeit dieses Jahr mit Riesenschritten seinem Fünfundsiebzigsten nähert (bevor Ihr ihm gratuliert: ich meine Kilogramm …). Nein, wir Bären feiern seit Tagen ein Fest der schönen Töne und der herrlichen Stimmen. Der Papi hat nämlich in einem der letzten Momente des alten Jahres unsere zwei Jahresbestellungen bei der traditionsreichen Wissenschaftlichen Buchgesellschaft getätigt. Er entschied sich für die fantastische Doppel-CD „Sospiri“ von Cecilia Bartoli – und nur wegen der Cecilia träumt Bärli neuerdings an manchen Tagen von einer internationalen Gesangskarriere als „Bäriton Bärli Bärtoli“. Mir hingegen stand der Sinn nach etwas tieferer Unterhaltung. Genau deswegen wählte Euer Bryan die erste Klassik-CD des italienischen Tenors Vittorio Grigolo.
Und jetzt schwärmen auch meine Bärenfreunde und der Papi ganz toll von „The Italian Tenor“ und alle beglückwünschen sie mich zu meiner Wahl. Daher will ich auch Euch den Vittorio freundlich empfehlen. Ob ich wohl der erste Teddybär bin, der über Vittorio Grigolo schreibt?
Die fünfzehn Stücke seiner ersten Opern-CD „The Italian Tenor“ nahm Vittorio Grigolo vom 28. Januar bis zum 1. Februar 2010 in Parma auf, zusammen mit dem Orchester des Teatro Regio di Parma unter der Leitung von Pier Giorgio Morandi. Ein argentinischer oder ein mexikanischer Tenor, der wie Vittorio bereits an der Metropolitan Opera in New York, der Mailänder Scala und im Royal Opera House in Covent Garden zu London gesungen hat, denkt bei PARMA vielleicht – genau wie ich – zunächst eher an Schinken. Aber für Vittorio waren der „richtige“ Ort für seine Aufnahmen sehr wichtig. Er wollte in seiner italienischen Heimat und in einer Gegend ins Mikrofon singen, in der „die Menschen die Oper zu sich nehmen wie Biscotti und Milch am Morgen“. Vittorio wünschte sich außerdem ein ausdrucksstarkes Repertoire „für die Kultur, aus der ich komme. Das ist so, als würde ich jemandem, der mich nicht kennt, meine Visitenkarte geben – die Stimme eines italienischen Tenors, auf natürliche Weise kommunizierend. Wir haben Arien ausgewählt, die ein großes, buntes Gemälde zeigen.“ Aber hört am besten selbst, wie geschmackvoll Vittorios Parma-CD tatsächlich geworden ist!
Geboren wurde Vittorio Grigolo im toskanischen Arezzo, und zwar am 19. Februar 1977. Aufgewachsen ist er in Rom, in einer wahrlich musikbegeisterten Familie. Bereits als Vierjähriger sang er Lieder aus den Zeichentrickfilmen der Biene Maja, als Sechsjähriger schmetterte er eine Arie aus der Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni (1863 bis 1945). Mit neun Jahren wurde er Mitglied und Solist im Chor der Sixtinischen Kapelle und sang dort vier Jahre lang. Als dreizehnjähriger SOPRAN trat Vittorio erstmals öffentlich in einer Oper auf – am Teatro dell’Opera in Rom gab er in Puccinis Tosca den Hirtenknaben Pastorello, an seiner Seite Luciano Pavarotti als Cavaradossi. Die Kritiken feierten Vittorio überschwänglich als „Pavarottino“, also als „kleinen Pavarotti“. Der große Pavarotti erkannte das Stimmpotenzial des Jungen und schrieb in dessen Autogrammalbum: „Du wirst die Nummer eins sein … Vittorio Primo!“ Eine mehrjährige Ausbildung an der Scuola puerorum an der Sixtinischen Kapelle schloss sich an.
Bereits zu dieser Zeit hatte Vittorio auch noch andere Interessen als die Oper. Er baute gerne etwas mit seinen Händen (heute werden es oft Skulpturen!) und dachte jahrelang ernsthaft daran, Pilot oder Rennfahrer zu werden: „Maschinen reizten mich sehr. Ich liebte die Geschwindigkeit und die Kraft von Autos. Ob Musik im Auto erklang oder von einem großen Orchester in einem Konzertsaal – für mich war das wie eine wunderbare Maschine.“
Zu den glücklichen Fügungen in Vittorios Leben gehört es, dass er die richtigen Menschen zur richtigen Zeit traf. Etwa den in Venetien unterrichtenden Bass Danilo Rigosa, bei dem Vittorio mit siebzehn Jahren ein Gesangsstudium begann. (Oder in späterer Zeit den in Musikerkreisen berühmten Rechtsanwalt Peter Lopez, der ihm ein guter Freund wurde.)
Vittorios Karriere entwickelte sich daraufhin langsam, aber unaufhaltsam. Mit achtzehn Jahren brillierte er als Tenor bei Freiluftaufführungen im Vèneto, es folgten Auftritte an der Wiener Kammeroper und im kroatischen Split. Als bisher jüngster Tenor debütierte er mit dreiundzwanzig Jahren an der ehrwürdigen Mailänder Scala. Viele prestigeträchtige Engagements schlossen sich an – und viele künstlerische Meilensteine liegen vor ihm, unter anderem ein bedeutsamer Opernfilm mit Plácido Domingo, nämlich Rigoletto in Mantua, die DVD seines umjubelten Auftritts vom letzten September.
Mit seiner persischen Ehefrau Roshanak, Tochter Manijeh und Sohn Faribors lebt Vittorio seit längerer Zeit in Zürich. Deswegen ist ihm auch seine beständige Verbindung zum dortigen Opernhaus sehr wichtig. Bemerkenswert: Mit einer einzigen Verdi-Opernaufführung der Züricher kamen Millionen Zuhörer und Zuschauer in den Genuss von Vittorios Gesangskünsten. Diese am 30. September 2008 LIVE im Fernsehen ausgestrahlte Inszenierung von La Traviata wurde seinerzeit im Züricher Hauptbahnhof aufgeführt! Für Vittorio war das ein besonders wertvolles Projekt: „Jugendliche gingen umher und sagten ‚Wow, das ist mal was anderes!‘ Man muss neue Kommunikationswege finden, um Oper an die Leute draußen zu bringen – man kann sie nicht in vier Wände einsperren. Wenn man einen schönen Diamanten hat und ihn in die Tasche steckt, wer kann ihn dann sehen?“ Jenes TV-Ereignis wurde inzwischen des Öfteren ausgestrahlt, in halb Europa wird Vittorio auf der Straße erkannt.
Als internationaler Durchbruch Vittorios gilt bei vielen Menschen aber seltsamerweise erst sein Debüt am Royal Opera House in London: Im Juni 2010 übernahm Vittorio für den erkrankten Rolando Villazón die Hauptrolle des Chevaliers des Grieux in der Oper Manon von Jules Massenet (1842 bis 1912), in der Titelrolle Anna Netrebko. Als er nach dem Finale vor den Vorhang trat, brach ein unbeschreiblicher Jubelsturm des Publikums los, und auch die Opernkritiker überschlugen sich ohne Ausnahme. So kraftvoll ist Vittorio! Umso erstaunlicher, dass Vittorios erste Gesangs-CD hierzulande bei Euch fast unbekannt ist: „In the Hands of Love“ wurde 2006/2007 in Großbritannien, Australien, den USA und Asien ein mehrfach ausgezeichneter Verkaufserfolg – es handelt sich dabei allerdings um eine Pop-CD!
Gewiss, inzwischen läuft die Vermarktungsmaschinerie für Vittorio Grigolo auf vollen Touren. Anlässlich der Promotion für die von mir empfohlene CD jagte ein Interviewtermin den nächsten. Im Gespräch mit Sabine Lange vom Radiosender NDR Kultur in Hamburg äußerte sich Vittorio im September 2010 ausführlich zu „The Italian Tenor“: „Die CD enthält italienische Arien – aber darum geht es nicht allein. Es geht darum: Wer ist Vittorio Grigolo? Vittorio Grigolo ist jemand, der sehr früh angefangen hat zu singen, mit einer sehr leichten Stimme, so wie Benjamino Gigli. Wir haben übrigens einiges gemeinsam. Gigli hat auch als Junge im Chor der Sixtinischen Kapelle gesungen. Wer ist Vittorio heute? Er ist ein lyrischer Tenor. Wer will Vittorio in Zukunft sein? Auch das soll man auf dem Album hören. Die Platte ist eine Art Visitenkarte. Das Publikum, das Vittorio noch nicht kennt, soll ihn kennenlernen und ahnen, was aus ihm werden kann, wenn er seine Stimme klug einsetzt und nicht sein Kapital verschleudert.“ Und er fuhr fort: „Ich glaube, es gibt viele Vittorios da draußen, viele Talente, viele wunderschöne Stimmen. Aber Stimme allein genügt nicht – man muss viele Qualitäten haben. Man muss Kraft haben, Durchhaltevermögen. Man muss wie ein Löwe sein – es gibt so viele Menschen, die einem das Messer an den Nacken setzen. Ich komme mir oft vor wie ein Held, der in der Arena kämpfen muss. Als Opernsänger haben wir es nicht so gut wie die Tennisspieler: Wenn die ein paar Bälle nicht bekommen, ist das okay. Wenn ich ein paar Töne nicht bekomme, dann schmeißen sie mich raus. Die Menschen wollen einen unbedingt auf den Gipfel eines Berges hieven, aber sie können es nicht abwarten, einen auch wieder herunterzuholen. Sie wollen einen Helden sehen, aber sie lieben es noch mehr, einen Helden stürzen zu sehen.“ In seinem umfangreichen Booklet-Text zitiert Roger Pines den Sänger zum gleichen Thema: „Manchmal kommen Kritiker ins Theater, die nicht erkennen, dass wir alle Menschen sind und nicht immer hundertprozentig funktionieren können.“ Teddys haben da viel mehr Verständnis, lieber Vittorio!
Die vorliegende CD – was heißt eigentlich vorliegend, sie liegt mal wieder im CD-Player! – enthält berühmte Arien, von drei Giganten der italienischen Oper: Gaetano Donizetti (1797 bis 1848), Giuseppe Verdi (1813 bis 1901) und Giacomo Puccini (1858 bis 1924). Den Papi hat dabei ja am meisten überrascht, dass Vittorio aus einer vermeintlich noch so abgenudelten Opernarie etwas Besonderes macht. Und wenn Ihr mich jetzt zufällig nach Vittorios Stimme fragen tätet, dann würde ich einfach sagen: sie leuchtet, sie strahlt und ich spüre darin so viel Gefühl, Leidenschaft und Echtheit. Ihm glaube ich einfach, was er singt. Er übertreibt nicht (wie das so viele andere Eurer Tenöre und Tenörchen tun), er ist angenehm unaufgeregt und hört sich für mich stets natürlich und zutiefst menschlich an. Dass Vittorio gut aussieht und über viel Ausstrahlung und Schauspieltalent verfügt, steht im selben Absatz.
Damit Ihr aber wisst, dass ich mit meiner Begeisterung für Vittorio Grigolo nicht allein dasitze, habe ich grad noch ein paar gebildete Stimmen aus Euren Kritik- bzw. Kulturabteilungen gesammelt. So schrieb das Magazin AUDIO im letzten November: „Für Grigolo ist Italienisch […] nicht ein lediglich schön klingendes Spielzeug. Er kennt die Nuancen, und er geht mit ihnen um wie mit einem Schatz, jedes Wort präzis gewogen, seine Bedeutung subtil in Gesang verwandelt. Das tut er mit einer Stimme, wie man sie seit langem nicht gehört hat. Ihr Grundton ist leise, zart, zerbrechlich. Umso fulminanter, packender kommt dann sein Forte, das nach oben keine Grenzen zu kennen scheint. […] Diese Stimme hat ein Fundament, das nichts erschüttern kann. Grigolo muss nicht laut singen, weil er weiß, dass das Geheimnis der leisen Töne viel tiefer geht. Aber wenn er laut singt, dann ist es wie der Lichtstrahl, der ins Dunkel bricht, funkelnd, schillernd, mit schärfster Kontur und überwältigend schön. […] Man sollte sich für diese CD die bestmögliche Anlage und viel Zeit nehmen. Auf einen Rutsch wird man die Schönheit und den Reichtum dieser Töne nicht auskosten können.“
In den CD-Tipps des Radiosenders BR Klassik war im September 2010 zu hören: „Grigolo hat vor allem eines: gestalterischen Ehrgeiz! Auch die populärsten Arien taucht er – unterstützt durch formidable Atemtechnik – in neues Licht. Die mezza voce setzt er hochsensibel zur Färbung und Schattierung von Cantilenen und Cabaletten ein, die sonst oft gerade von italienischen Tenören mit einer Überdosis Selbstbewusstsein ausgestellt werden. […] Grigolo jedoch lenkt den Hörblick auf die unterschwelligen Selbstzweifel, die seelischen Abgründe von Opernfiguren Donizettis, Verdis und Puccinis: Wir lernen lauter gebrochene Helden kennen – und das hat seinen Reiz. […] Aus dem Opernursprungsland Italien kommt hier ein ernsthafter Konkurrent für alle Tenöre lateinamerikanischer Provenienz.“ – Du meine Güte, klang das eben gescheit! Dass mir da bloß keiner eine Überdosis Cabaletten schattiert …
Das internationale Opernmagazin opernwelt wiederum schrieb: „… sinnlich und strahlend das Timbre, lebendig und suggestiv die Gestaltung. Dazu Spieltalent und die Latin-Lover-Looks für die romantischen Helden – es ist schon fast beängstigend, wie Grigolo alle Anforderungen an das Berufsbild ‚Startenor‘ zu erfüllen scheint.“ Und im Fachmagazin Das Opernglas stand zu lesen: „Ein warmer, schmelzreicher Tenor – eine Ausnahmestimme mit einer Farbpalette, die an ein Naturwunder grenzt.“ Ich kann freilich sogar noch kürzer zitieren: Im September 2010 sah Der Kulturspiegel den Vittorio unterwegs „zum Firmament der Stimmen“, Der Tagesspiegel stellte voller Begeisterung fest: „Habemus tenorem!“
Nun, ich denke, das reicht … Im Internet könnt Ihr inzwischen eine Menge Stoff über Vittorio Grigolo finden, unter anderem auf seiner gepflegten Website www.vittoriogrigolo.com und auf www.youtube.com. Aber die Schlussworte seiner sympathischen Danksagung im CD-Booklet findet Ihr vorerst nur hier bei mir. Vittorio schreibt dort: “And lastly, I would like to dedicate this whole album to Peter Lopez. He was a great friend and a wonderful person, and his recent loss has created a huge hole in my life that cannot be filled. You will always live in my heart, and in the hearts of all those to whom you were close in a way that only you were capable of! Thank you.”