Mensch des Monats Worte im Wind

Ein Bruder im Geiste, für Eure Herzen

Natürlich kann es sein, dass Ihr seinen Namen noch nie zuvor gehört habt. Das macht aber nichts, im Gegenteil: Gerade dann ist es mir besonders wichtig, ihn Euch in meiner Mensch des Monats-Reihe etwas näher vorzustellen.

Werdet nicht muffig, den finde ich knuffig!

Ja, auch wir Teddybären lieben Menschen mit einem sympathischen Lächeln. Und es war eine Wohltat, als der Papi vorgestern seinen alten Videorekorder angeschmissen und mir eine uralte Doku über ihn gezeigt hat. Doch auch wenn Euch schon langsam schwarz vor Augen wird – bevor ich seinen Namen nenne, will ich noch drei Zitate loswerden:

Knapp war einst das Urteil, das ein Pariser Verleger über sein erstes Romanmanuskript fällte: „Das ist ein wunderbarer Schriftsteller: Er ist prägnant, hat Aussagekraft, ist geistreich und hat was zu sagen.“

Am Ende seines Lebens sprach dieser oft auch als Lehrer, Prediger oder gar als Prophet bezeichnete Schriftsteller zu seinem Bruder: „Ich hoffe inständig, dass ich meine Arbeit so gemacht habe, dass jemand, wenn ich mal nicht mehr bin und wenn er sich die Mühe macht, in dem ganzen Durcheinander, dem ganzen Trümmerhaufen, den ich hinterlassen habe, herumzugraben, dass er dann etwas findet, was er brauchen kann. Wenn mir das gelungen ist, dann habe ich etwas erreicht im Leben.“

Viele Jahre früher hatte mein Mensch des Monats Dezember gesagt: „Keine Gruppierung, kein Slogan, keine Partei, keine Hautfarbe und auch keine Religion ist wichtiger als der Mensch selbst. … Ich glaube nämlich wirklich an das neue Jerusalem. Ich glaube nämlich wirklich, dass wir alle bessere Menschen werden können. Aber der Preis ist enorm, und noch sind die Menschen nicht bereit, ihn zu zahlen.“

Ihr merkt, wir kommen „ihm“ immer näher. Für mich einzigartig ist jedenfalls ein schwarz-weißes (!) Fernsehinterview aus den 1960er-Jahren. Vor Publikum fragt ihn da der weiße Gastgeber: „Als Sie als Schriftsteller anfingen, waren Sie schwarz, völlig mittellos und homosexuell. Kamen Sie sich da nicht benachteiligt vor?“ Seine lächelnd vorgetragene, spontane Antwort: „Nein, ich fand, ich hätte das große Los gezogen!“ Das Publikum gibt sich amüsiert, da fügt er hinzu: „Es war so ungeheuerlich, dass es eigentlich nicht mehr schlimmer werden konnte.“ Dabei wird verschwiegen, dass er zu allem Überfluss auch noch Linkshänder war …

So, Eingeweihte wissen es längst: Die Rede ist von James Baldwin. Was für ein Leben, was für ein Werk!

Am 2. August 1924 wird James Arthur Jones als erstes Kind der alleinlebenden Hausangestellten Emma Berdis Jones im Harlem Hospital in New York City geboren. Sein Vater ist unbekannt. Seine Mutter heiratet bald darauf den Fabrikarbeiter und Laienprediger David Baldwin. Von James’ Stiefvater wird sie in den folgenden Jahren noch weitere acht Kinder bekommen (Serafino zum Ersten: „Bis jetzt alles weder auffällig noch ungewöhnlich, oder?“).

„Dieser Teddy ist ja noch knuffiger als ich. Wie wär
das schön, wenn der mich gleich ansprechen würde.“

James’ Kindheit und Jugend sind von bitterster Armut geprägt. Doch schon früh zeigt sich sein großes Interesse an Literatur. In den öffentlichen Bibliotheken New Yorks verschlingt er alles Lesbare, was ihm in die Finger kommt. Das Verhältnis zu seinem Stiefvater ist aber bald extrem angespannt. Der religiöse Fanatiker zwingt seinen inzwischen 14-jährigen Stiefsohn zum Kirchendienst und bekommt in seiner Pfingstgemeinde Konkurrenz: Als jugendlicher Prediger findet James dort ehrliche und herzliche Anerkennung. Drei Jahre lang dauert die Predigerrivalität zwischen Stiefvater und Stiefsohn – dann verlässt James seine Familie und die Kirchengemeinde an ein und demselben Tag. Zu dieser Zeit ist er der Überzeugung, er täusche seinen Zuhörern Glauben und Inbrunst nur vor. Religiöser Eifer und die Ablehnung durch den Stiefvater sind später große Themen in James Baldwins Werken. Rückblickend stellte er fest: „Ich musste mich gegen meinen Vater so sehr zur Wehr setzen, dass ich seitdem vor niemandem mehr Angst habe.“

Kurz nach seinem erfolgreichen Abschluss an einer vornehmlich von Weißen besuchten High School in der Bronx (stellt Euch vor, dort gab er eine Schülerzeitung heraus!) stirbt 1943 sein Stiefvater, vermutlich in einer Nervenklinik. Der 19-Jährige sieht sich verpflichtet, für den Unterhalt der großen Familie zu sorgen. Er arbeitet als Laufbursche, Portier, Fahrstuhlführer, Fabrikarbeiter und Tellerwäscher. All diese Tätigkeiten be- und verstärken seinen Entschluss, Schriftsteller werden zu wollen. In dem 16 Jahre älteren Literaten Richard Wright (1908 bis 1960) findet James Baldwin 1944 seinen ersten Förderer. (Aber nicht so, wie Ihr jetzt vielleicht denkt: Die Freundschaft der beiden war spätestens dann zu Ende, als Wright von James’ offen ausgelebter Homosexualität erfuhr. Gedankliche Differenzen kamen hinzu.)

In den Jahren nach 1946 wird Baldwin als Buchrezensent und als Essayist bekannt und publiziert in namhaften Zeitungen und Zeitschriften. Weil er den Rassismus in New York nicht länger ertragen konnte, verlässt er im November 1948 die USA und geht ins für ihn gelobte Land, nämlich nach Frankreich … und zwar für sehr lange Zeit! Er nennt das „Selbstexilierung“ und begründet seinen Schritt: In den USA sei es ihm nicht gestattet gewesen, sich in die von ihm gewünschte Richtung zu entwickeln. „Alles, was mir meine Landsleute in jenen 24 Jahren, die ich im Lande zu leben versuchte, anzubieten hatten, war der Tod – ein Tod überdies nach ihrem Geschmack.“ Und an anderer Stelle sagt er: „1948 kehrte ich Amerika den Rücken und ging nach Paris. Das gab mir Zeit, eine Menge Verbitterung auszukotzen. Ich konnte überall hingehen, ohne sozial bedroht zu werden. Und niemand kümmerte sich darum, was ich tat.“

„Hallo, hier Bryan. Du bist doch der Herr Baldwin,
oder?“ „Hallo Bryan, musst nicht nervös sein. Bitte
sag doch Jimmy zu mir. Wollen wir Freunde sein?“

1972 schreibt Baldwin in einem Essay: „Ich war ohne Geld nach Paris gekommen – und das bedeutete, dass ich vorwiegend unter den Ausgestoßenen lebte. Und das sind in Paris die Algerier. Sie kratzten sich ihr Auskommen von den schmutzigen, unnachgiebigen Steinen von Paris herunter. Die Franzosen schimpfen sie Faulpelze, aber das sind sie nicht. Sie konnten nur keine Arbeit finden. Sie lebten in eiskalten Behausungen, und obwohl sie Französisch sprachen und in gewisser Hinsicht von Frankreich hervorgebracht wurden, waren sie in Paris nicht mehr zu Hause als ich.“ Erst in Frankreich übrigens lebt Jimmy offen schwul. Noch lange Zeit ist er arm, versteht aber zu feiern und das Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten zu zelebrieren. Im Winter 1951/52 sorgt er mit seinem jüngeren Pariser Freund Lucien im abgelegenen Schweizer Kurort Leukerbad für erhebliches Aufsehen!

Wie Ihr sicher wisst, ist der Lebensweg vieler Schriftsteller sehr mühsam. Auch James Baldwin versucht sich zehn Jahre (!) lang erfolglos an längeren fiktionalen Texten. Dann erst kommt der aus meiner Bärensicht verdiente künstlerische Durchbruch: In seinem ersten Roman Gehe hin und verkünde es vom Berge (Go Tell It on the Mountain, 1953) spiegeln sich seine Kindheits- und Jugenderfahrungen in der heimatlichen Harlemer Baptistenkirche.

Drei Jahre später erscheint sein zweiter Roman: Giovannis Zimmer (Giovanni’s Room). Hier geht es um ein seinerzeit unerhörtes Thema: Der heiratswillige Ich-Erzähler, der junge weiße Amerikaner David, erliegt in Paris der Anziehungskraft des italienischen Jünglings Giovanni. Der gutherzige Giovanni liebt diesen David glutvoll, leidenschaftlich und über alles – ist also ganz nach dem Geschmack der meisten Teddys geraten. Aber die Beziehung der beiden scheitert tragisch am schwankenden Charakter des Amerikaners in Paris. Ich soll nicht zu viel verraten, hat mir der Papi empfohlen! Nach Erscheinen von Giovannis Zimmer prophezeiten Kritiker jedenfalls ein rasches Ende von Baldwins literarischer Laufbahn: Die unverschlüsselte Darstellung von Homosexualität sei dem Publikum nicht vermittelbar. Doch der Roman wurde ein internationaler Erfolg und gilt heute als Baldwins berühmtestes Werk. Mit gutem Grund daher an dieser Stelle eine grundsätzliche persönliche Betrachtung von Jimmy: „Ich glaube, es kommt darauf an, dass man Ja zum Leben sagt. Nur dieses perverse 20. Jahrhundert ist so begierig darauf, die genauen Einzelheiten von jedermanns Sexualleben zu erfahren. Ich halte diese Einzelheiten nicht für wesentlich, im Gegensatz zu der Macht, die Liebe heißt. Und die kommt nun mal in den seltsamsten Formen daher. Ich habe ein paar Männer geliebt, und ein paar Frauen. Und ein paar Menschen haben mich geliebt. Das hat mein Leben gerettet.“ Denn wenn er sich auch noch so sehr aufs Feiern verstand: Depression war für ihn ein Fremdwort, das er sehr gut kannte …

Das schafft nicht jeder: James Baldwin auf dem Titel des Nachrichtenmagazins TIME.

Wenn auch fern der Heimat, so mischt sich James Baldwin immer wieder und immer stärker in die schwarze Bürgerrechtsbewegung der 1950er- und 1960er-Jahre ein. Er verfasst etliche einflussreiche Essays, und so vergehen sechs Jahre, bis sein nächster Roman erscheint: Eine andere Welt (Another Country, bitte nicht mit dem gleichnamigen Filmdrama verwechseln!, 1962) dreht sich um den arbeitslosen afroamerikanischen Jazzmusiker Rufus und seine vorwiegend weißen Freunde. Auf faszinierende Weise, spannend, zärtlich, brutal und unbequem verfrachtet Euch Baldwin mitten hinein in das intrigante, rassistische und erschreckend trostlose Leben der amerikanischen Gesellschaft jener Tage. Ach ja, genau deswegen hat sich der nette Musikus Rufus gerade umgebracht und seine Freunde versuchen sein Leben und seinen Tod zu verstehen. Schluck, da zitiert Euer Bryan lieber gleich ein sprödes Literaturlexikon: „Hier kommt Baldwins These von der selbstzerstörerischen Wirkung des Hasses, von der Vereinzelung und Entfremdung aller Menschen, der Schwarzen wie der Weißen, besonders deutlich zum Ausdruck.“

Oh, ich könnte noch eine ganze Weile weiterschreiben. Etwa über seine Essaysammlung The Fire Next Time (1963), in der Baldwin schonungslos und von persönlichen Erfahrungen ausgehend die rassistische Struktur und die sexuelle Doppelmoral der US-amerikanischen Gesellschaft analysiert. Und dabei im Gegensatz zu vielen schwarzen Zeitgenossen seinen Optimismus bewahrt, dass sich die ethnischen Konflikte in den USA, wenn auch mit großer Kraftanstrengung, langfristig und ohne Gewalt überwinden lassen!

Oder über seinen Roman Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort (Tell Me How Long the Train’s Been Gone, 1968), in dem er radikaler, konsequenter, noch politischer geworden ist und auf die Vorwürfe und Forderungen der militanten Black-Power-Bewegung antwortet. Sag mir, wie lange … erzählt die Geschichte des schwarzen Jungen Leo aus Harlem, aus dem nach vielen Demütigungen, nach Verfolgung, Unterdrückung und den Verwirrungen seiner Liebe zu Frauen und Männern ein berühmter Schauspieler geworden ist.

„Es wird scho glei dumper“ („Es wird schon gleich dunkel“)
singt der Österreich-Bär Serafino gerade. Doch für mich
ist und bleibt James Baldwin ein leuchtendes Vorbild!

Neben seiner Schriftstellerei und dem politischen Engagement gegen Rassismus wird James Baldwin in den 1980er-Jahren als Gastdozent an vielen amerikanischen Universitäten tätig. Er hält im ganzen Land Vorlesungen und unterrichtet mehrere Jahre lang am Hampshire College in Massachusetts. Baldwin, seit 1964 Mitglied der renommierten American Academy of Arts and Letters und seit 1986 Kommandeur der französischen Ehrenlegion, will seine Lebenserfahrungen mit Kraft und ohne Bitterkeit weitergeben.

Doch viel zu früh ist alles vorbei: Die Ärzte stellen bei ihm Magenkrebs im Spätstadium fest. Seine letzten Monate verbringt er in seinem Haus im südfranzösischen Saint-Paul de Vence. Umgeben von Freunden, stirbt James Baldwin am 1. Dezember 1987, ganz kurz nach Mitternacht. Aber Euer Bryan wird ihn nie vergessen!

Der Papi meint ja, dass James Baldwins Schreibstil für Böll-, Frisch- oder Grass-Anhänger wahrscheinlich weniger geeignet ist. Aber was habt Ihr gegen mitunter große Gefühle, gegen Empathie und feierliche Ergriffenheit, gegen pulsierende Vielfalt, drastisch geschilderte Leidenschaften, chaotische Liebesverstrickungen oder schockierende Ernüchterungen? Um es mit den verstandesmäßigen Worten irgendeines menschlichen Schlaumeiers fulminant auszudrücken: Mir gefallen solche „dramatischen Panoramen fundamentaler Gewissenskonflikte und Entscheidungen“. Da lehne ich mich nämlich einfach an den Papi oder an Prinzchen!

Wenn Ihr Euch die Rezensionen zu James Baldwin auf www.amazon.de anschaut, werdet Ihr auf viel Bewunderung stoßen. Da lest Ihr etwa über Eine andere Welt: „Eines der besten Bücher der amerikanischen Literatur“ (Serafino zum Zweiten: „Das ist ja nun auch wieder nicht so schwer …“), „Dieses Buch ist ein Meisterwerk und ein zeitloser Klassiker. … Jeder Charakter ist bis in die Tiefe glaubwürdig und authentisch beschrieben, und allein das ist schon eine Kunst für sich.“ Als Ergänzung eine amerikanische Hymne: “James Baldwin is in my opinion the greatest writer of the late twentieth century. Another Country proves it. … An excellent gift for enlightened friends.” Oder nehmt diesen Auszug einer Besprechung von Giovannis Zimmer: „Dieses Buch war seiner Zeit weit voraus. … Es hat mich tief bewegt, da dieses Werk in die Höhen und Tiefen der Seele vorstößt. … Das Buch ist mutig und beschreibt mit gut verständlichen Worten die Tiefe der menschlichen Gedanken- und Gefühlswelt.“ – Habe ich Euch jetzt endlich überzeugt?

Originalton James Baldwin: „Es liegt an Dir. So lange
Du denkst ‚Ich bin weiß‘, bin ich gezwungen zu
denken ‚Ich bin schwarz‘.“ Ich bin zwar hellbeige,
aber ich denke jetzt trotzdem mal darüber nach.

Umso verwunderlicher, wie spärlich heutzutage das deutsche Baldwin-Buchangebot ist – das macht mich sehr traurig! Auch die erwähnte reichhaltige Filmdokumentation „The Price of the Ticket“ aus dem Jahre 1989 ist offenkundig nirgendwo auf DVD erschienen. Falls Ihr gerade auf der Suche nach Skandalen seid – hier habt Ihr einen! Umso schöner, dass der Papi und ich diese Doku angeschaut haben und uns an die Nacht erinnern, in der Barack Obama zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde. Auch damals haben wir nämlich an James Baldwin gedacht und gelächelt.

Fotonachweis: Für die verwendeten Fremdfotos danke ich Carl van Vechten (James Baldwin 1955), der Harvard Square Library (TIME) sowie der Joyce Gordon Gallery (James Baldwin zwei Jahre vor seinem Tod).