Bryan empfiehlt Meine Freunde

Zur Erinnerung: Die Tragödie von Longarone

Von hier oben kam die Todesflut.

Ihr kennt das sicher aus so manchem Katastrophenfilm: Techniker planen ein großes Projekt, ein Forscher warnt vor den dramatischen Folgen. Doch kein Mensch will auf ihn hören, die Auswirkungen: verheerend. Über ein solches Projekt menschlicher Anmaßung und Verantwortungslosigkeit will ich Euch heute berichten. Auch den Papi hat diese Tragödie sehr beschäftigt, und er war schon mehrmals an dem Ort, an dem nichts mehr so ist wie einst. Denn es war kein Film, sondern Wirklichkeit: Am 9. Oktober 1963, also heute vor 46 Jahren, stürzten riesige Felsmassen in den Vajont-Stausee in Norditalien. Und um die 2.000 Menschen im kleinen Erto- und unten im großen Piavetal bei Belluno verloren ihr Leben. Wie konnte das passieren?

Der Papi und ich, wir lieben die Wasserkraft, jedenfalls grundsätzlich. Ich täte ja am liebsten auf der ganzen Welt die Gezeiten der Meere nutzen und hätte dann sicher genügend Energie. Und ich verehre den mir besonders nahen Lech, der all seine Kraft den Menschen schenkt und dafür auf seinen ursprünglichen Lauf verzichtet. Der Vajont-Stausee nun sollte große Wasserreserven bereitstellen, um damit während der Trockenzeiten Strom erzeugen zu können. Strom hauptsächlich für das rund 100 Kilometer entfernte Venedig!

Mauer der Trauer: die Vajont-Talsperre im Sonnenlicht

Die Planungen für diesen großen Stausee zur Stromversorgung der Serenissima zogen sich sehr lange hin. Bereits 1928 hatten der Geologe Giorgio Dal Piaz und der Bauingenieur Carlo Semenza die Schluchten des Flüsschens Vajont begangen. Beiden schien vor allem die letzte Schlucht des Vajont vor seiner Mündung in den (auch: die) Piave für eine Talsperre geeignet. Mit den Projektarbeiten wurde aber erst um 1940 begonnen. 1943 kam das Vorhaben unter dem schönen Namen „Grande Vajont“ vor die zuständigen (faschistischen) Organe. Weil aber die meisten Kommissionsmitglieder im Krieg oder auf der Flucht waren, konnten nur sehr wenige zustimmen. Dieses dubiose Resultat ohne gesetzliche Grundlage wurde später nie mehr hinterfragt. 1949 fanden dann gründliche geologische Untersuchungen statt. Starke Proteste der Talbewohner – wie so oft sollten zahlreiche Wohnhäuser und wertvolles Kulturland dem Stausee geopfert werden – fanden kein Gehör. Mitte der 1950er-Jahre kam es zu den ersten Enteignungen. Die das Projekt beherrschende Elektrizitätsfirma trieb druckvoll die Vorbereitungen für die große Baustelle voran. Die Aushubarbeiten für die Staumauer begannen im Januar 1957 sogar ohne die Zustimmung des zuständigen Ministeriums. Dieses genehmigte den Mauerbau erst drei Monate später. Und was für eine Mauer:

Es sollte die höchste Staumauer der Erde werden! Anfangs hatten die Pläne eine „nur“ 202 Meter hohe Talsperre mit gut 58 Millionen Kubikmetern Wasser dahinter vorgesehen. Später wurde das Projekt modifiziert und eher stillschweigend wesentlich erweitert. Führt Euch bitte mal diese Doppelbogenstaumauer vor Augen: Sie ist genau 261,6 Meter hoch, ihre Kronenlänge beträgt 190 Meter. Oben ist die Talsperre 3,4 Meter breit, unten gut 22 Meter stark. 400.000 Kubikmeter Gestein wurden abgetragen, 360.000 Kubikmeter Beton verbaut. Fertig war der Riesenbau im September 1959. Hinter den Betonmassen sollten nun langsam 152 Millionen Kubikmeter Wasser „reserviert“ werden.

Zement-Injektionen und
ein tiefer Eindruck …

Doch der Berg südlich des Vajont wehrte sich … und sage niemand, er hätte die Menschen nicht mehrmals ein-, aus- und nachdrücklich gewarnt. Gleich zu Beginn der Bauarbeiten ereigneten sich mehrere kleinere Bergstürze – ausgerechnet an den Flanken, auf die sich die Staumauer stützen sollte. Mit Zement-Injektionen versuchte man den Monte Toc gefügig zu machen. Auch die folgenden kleineren Erdbeben führten zu keinem Baustopp, sondern lediglich zu weiteren geologischen Gutachten. Bei diesen Forschungen stellte sich heraus: Der Monte Toc war tief in seinem Inneren umfangreich gespalten, wohl die Folge eines Bergsturzes in uralter Zeit. Dass bei ansteigendem Wasserspiegel erneut Gesteinsmassen ungeheuren Ausmaßes in den dann aufgestauten See abrutschen könnten – dieser deutliche Befund der Geologen verschwand allerdings sofort in diversen Schubladen.

Indes, der warnende Monte Toc gab nicht nach – oder besser gesagt doch: Kurz nach dem ersten Wasseraufstau kam es im März 1959 zu einem größeren Bergrutsch. Und Anfang November 1960 stürzten gleich 700.000 Kubikmeter Gestein in den inzwischen gut gefüllten See. Doch auch dieser große Bergsturz hatte leider nicht Besinnung, Einsicht und Umkehr zur Folge, sondern lediglich eine Simulation: Eine in Wahrheit von Männern der Elektrizitätsfirma kontrollierte „unparteiische“ Unterabteilung des Instituts für Hydraulik und Wasserbau der Universität Padua stellte erst einmal einen 40-Millionen-Kubikmeter-Bergsturz nach – und hinterher dann fest: Auch dieses „schlimmstmögliche Szenario“ würde ohne Schäden für Mensch und Tier im See verlaufen. Wohl nur wenige Menschen in den betroffenen Tälern ließen sich noch durch solche und ähnliche offizielle Stellungnahmen besänftigen. Erst recht nicht Tina Merlin (1926 bis 1991): Diese engagierte Journalistin hatte schon lange und immer wieder vor den Gefahren des Stauseeprojektes gewarnt. Wegen „der Verbreitung falscher, übertriebener und tendenziöser Nachrichten“ stand sie alsbald vor einem Mailänder Gericht …

Zur Ablenkung nachgefragt: Na, ist Euch etwa auch schon schwindlig?

Das erwähnte Padua-Gutachten beruhigte vielleicht so manchen, nicht aber den Monte Toc. Im Gegenteil: Der Boden bewegte sich immer schneller, Bäume kippten reihenweise um, Straßen wurden unpassierbar, die Hangrutschungen unübersehbar, es gab zahlreiche Erdbeben. Anfang Oktober 1963 waren aus dem Inneren des Berges laut knatternde Geräusche zu hören! Es waren dies die letzten Warnungen des Monte Toc.

Zu jener Zeit hätte nur noch die sofortige Evakuierung der Bevölkerung die Katastrophe verhindern können. Hätte. Hätte. Liebe Freunde, mir stockt der Atem. Denn am Monte Toc beginnt der letzte Tag. Und es kommt eine Nacht, die seit Menschengedenken die dunkelste in dieser Gegend ist, die Nacht des 9. Oktober 1963 (zugleich ist es die hellste):

Um 22.39 Uhr löst sich die Nordflanke des Monte Toc auf einer Länge von 2,5 Kilometern. Das krachende Inferno im gleißenden Licht zerberstender Stromleitungen hat begonnen. 260 Millionen Kubikmeter Gestein stürzen mit über 100 Stundenkilometern auf 50 Millionen Kubikmeter Wasser herab. Dann rast eine 250 Meter hohe Flutwelle drüben auf den gegenüberliegenden Hang. Hier teilt sie sich mit einem weiteren Donnerschlag. Die eine Hälfte schwappt talaufwärts und bringt dort totale Zerstörung. Und der andere Teil beginnt zu fliegen: Ein 160 Meter hoher Mega-Tsunami aus 25 Millionen Kubikmetern Wasser stürzt über die Vajont-Staumauer hinab ins Piavetal. Und Longarone, das liebevoll „Klein-Mailand“ und „Hauptstadt des Eisbechers“ genannte Städtchen mit den vielen Villen aus dem 18. Jahrhundert, Longarone ist nicht mehr. Gedenket der Toten. – –

Noch heute eine klaffende Wunde:
die Nordflanke des Monte Toc

Die geologische Begutachtung des Geschehens überlässt Euer Bryan lieber anderen. Ich müsste sonst nämlich seltsame Begriffe wie thixotrop, hydrostatisches Paradoxon, adiabatisch, Scherung und Gleitfuge erklären. Unbestritten ist heute: Das zuerst langsame Kriechen und dann immer schnellere Abrutschen der Bergflanke am Monte Toc hing ursächlich mit dem Aufstauen der gewaltigen Wassermassen des Vajont-Stausees zusammen. Menschenwerk.

Was natürlich und zu Recht jeden anständigen Bauingenieur freuen dürfte: Die Vajont-Staumauer überstand das Desaster beinahe unbeschädigt. Sie steht heute noch, ist weltberühmt und mahnt die Menschen. Hoffentlich wenigstens (aber da muss ich jetzt doch an Asse und Gorleben denken) … Der Ingenieur Carlo Semenza hat den ultimativen Beweis für die Standfestigkeit seines Bauwerkes nicht mehr erlebt, er starb am 31. Oktober 1961. Auch der lange Zeit federführende Geologe Giorgio Dal Piaz ist vor der Tragödie von Longarone (Italiener sprechen von strage, disastro bzw. tragedia del Vajont) verstorben, und zwar am 20. April 1962. Noch bis zum Jahr 1965 war die Talsperre des Vajont tatsächlich die höchste Staumauer der Welt. Nur eben eine ohne Stausee.

In diesen Tagen bin ich ein trauriger Buchhalter.

Abschließende Hinweise: Unter anderem auf www.wikipedia.de wird ausführlich über das Unglück geschrieben, mit vielen weiteren Nachweisen. Die von mir verwendeten Fremdfotos stammen von dort sowie von der interessanten Website www.vajont.net. Das Buch im Bild nebenan empfehle ich Euch von ganzem Herzen: Der fliegende See von Marco Paolini und Gabriele Vacis ist die 1998 im Verlag Antje Kunstmann erschienene, genial geschriebene Chronik einer angekündigten Katastrophe. Sie ist dermaßen fesselnd, dass es Euch mitreißen wird!