Bryan empfiehlt

Mit Bryan unterwegs: „Die Hochstraßen der Alpen“

„Von Luzern gegen Süden gibt es das derzeit einzige Stück Autobahn der Schweiz, das 4 km lang ist.“ Dieser Satz steht in einem ziemlich alten Buch. Es heißt „Die Hochstraßen der Alpen“ und ist eines von Papis Lieblingsbüchern. Gefunden hat er es vor vielen Jahren in einem Münchner Antiquariat; lange schon wollte ich Euch davon erzählen. Doch mein Abwarten hat Sinn gemacht: Mit großer Freude kann ich Euch nämlich jetzt vermelden, dass praktisch das gleiche wundervolle Buch letztes Jahr in einem preiswerten Nachdruck (19,99 Euro) erschienen ist! Nun könntet Ihr es also ebenfalls kaufen, liebe Freunde. Und der Papi kann endlich unbesorgt in der 1957 erschienenen 5. Auflage von „Die Hochstraßen der Alpen“ schmökern, ohne sich um den Erhalt seiner Originalausgabe, der 7. Auflage aus dem Jahr 1960, sorgen zu müssen. Zu verdanken hat er das dem 1980 gegründeten und heute im Gut Pottscheid(t) in Königswinter ansässigen HEEL Verlag. Diesen HEEL Verlag sollte ich mir merken, er gehört laut Onlinelexikon Wikipedia zu den 100 umsatzstärksten deutschen Verlagen und bringt im Jahr immerhin etwa 80 Neuerscheinungen und 30 Kalender heraus.

Zwischen Reprint (l.) und Originalausgabe fühle ich mich in meinem Element!

Sollte der Papi jemals glauben, er hätte mit seinem Fahrrad schon alle erlaubten Alpenpässe erklommen und wäre durch alle befahrbaren Schluchten geflitzt, würde ich nur stumm zum Bücherregal deuten. Dann würde der Papi garantiert einmal mehr in besagtem Buch zu blättern beginnen und auch Euer Bryan würde wieder schnell ins Schwärmen kommen. Denn es ist von längst vergangenen Zeiten zu lesen; es scheint auch eine ganz andere Art des Reisens gewesen zu sein. Und wie viele interessante Informationen über die vielen Straßen im gesamten Alpenraum in diesem Wälzer zu finden sind! In der Einführung steht ein Satz, der dem Papi aus der Seele spricht: „In der Regel kann man jede Alpenstraße als schön bezeichnen.“ Sehr unterhaltsam, sympathisch, kenntnisreich und mit Begründung verteilt der Autor anschließend an viele der von ihm vorgestellten 400 (!) Hochstraßen ein, zwei oder gar drei Sternchen.

Erstmals erschienen sind „Die Hochstraßen der Alpen“ bereits im Jahr 1930 (!). Der 1902 geborene Reisejournalist, Kartograf und Verleger Kurt Mair hatte hierfür 1928/29 „eine systematische Befahrung aller Paß- und Hochstraßen der gesamten Alpen zwischen Wien und Nizza durchgeführt“ (aus dem Vorwort). Bis 1939 erlebte die damals zweibändige Ausgabe vier Auflagen. Bei dem hier von mir empfohlenen Reprint der 5. Auflage ist mit Kurt Mairs Worten „kein Stein auf dem anderen geblieben. Wie es bei einigem zeitlichen Abstand häufig so geht, hat dem Verfasser sein Werk selbst nicht mehr gefallen. Es mußte ganz neu geschrieben werden, und es wurden dazu in den Jahren nach dem Krieg alle Paßstraßen erneut befahren, damit das Werk zuverlässig dem heutigen Stand entspricht.“ Für Kurt Mair sollte das Buch vor allem „der Planung von Alpenfahrten“ dienen und „mit seinen zahlreichen Bildern auch ein Erinnerungswerk sein“. Heute sind die abgebildeten 300 (!) Schwarz-Weiß-Fotos tatsächlich bärenstarke Erinnerungen an längst vergangene Tage. Sie zeigen dem Betrachter eindrucksvoll auf, wie sehr und wie schnell sich alles seither verändert hat. Freilich, auch die Sprache hat sich gewandelt! Von daher muten recht viele Ausdrucksweisen etwas altertümlich an, ein Beispiel: „Ich erinnere mich noch gut der Zeit, als sich hier durch bergungewohnte Fahrer so viele Unfälle ergaben, daß an Sonntagen viele Ausflügler an den Hängen des Zirlerberges saßen, um der Unglücke zu harren, die da kommen würden.“ Und wann habt Ihr zum letzten Mal von Automobilisten, von Sprachbeflissenen und einem Leibgericht gelesen? Der Papi vermutet übrigens, gerade eben …

So sieht es also aus, wenn der Papi auf Radreise zur Digitalkamera greift: Zum Stilfser
Joch/Passo dello Stelvio (2.758 m; Bildmitte) ist es noch weit … (September 2012)

Kurt Mair, bitte lasst mich das kurz erzählen, war ein abenteuerlustiger Pionier des Auto- und Motorrad-Tourismus. Sein von Entdeckungsdrang geprägter Hochstraßen-Führer war die erste Bestandsaufnahme aller Alpenstraßen überhaupt (die heutige „Bibel“ für engagierte Alpenfahrer, der gegenwärtig in der 25. Auflage lieferbare „Große Alpenstraßenführer“ aus dem Denzel-Verlag in Innsbruck, erschien erstmals 1956). Mair tourte in den 1920er-Jahren aber nicht nur in den Alpen, sondern auch durch Nordafrika, die Türkei und die meisten europäischen Länder. Mit dabei hatte der technisch versierte Tausendsassa meistens alle nötigen Werkzeuge und Ersatzteile, ein Zelt – und seine Ehefrau. 1931 wurde Kurt Mair Vater von Zwillingen. 1948 gründete er das vier Jahre später in Mairs Geographischer Verlag umbenannte Kartographische Institut Kurt Mair. Sein Name ist heute erster Bestandteil der Firmenbezeichnung von Deutschlands größter Reiseverlagsgruppe, nämlich von MairDumont (entstanden 2005; Firmensitz ist Ostfildern bei Stuttgart).

Nun aber endlich zum 530 Seiten starken und 1.265 Gramm schweren Neudruck. Vermutlich ab und an lächelnd werdet Ihr zu Beginn die Erläuterungen über die notwendige technische Ausrüstung lesen. Auf 17 (!) Seiten informiert Kurt Mair sodann über die (damalige) Fahrtechnik im Hochgebirge, ohne Servolenkung und die vielen anderen Errungenschaften der modernen Automobiltechnik. Ihr werdet viele Tipps zum Bremsen („Besonders beachten muß man auch, daß die Bremsstrecke in der Abwärtsfahrt erheblich länger ist als in der Aufwärtsfahrt“), Kehrenfahren („Der Trick für ein gutes Reversieren ist, daß man im letzten Augenblick vor dem Halten am Straßenrand noch in der Vorwärtsfahrt die Räder in die Gegenrichtung einschlägt und dann ein Stück zurückfährt, wobei man wieder unmittelbar vor dem Halten in die andere Richtung zurückeinschlägt“), Lenken („Man sieht nicht selten Fahrer, die so am Lenkrad hängen, daß beide Hände nebeneinander rechts oder links das Lenkrad umfassen, ja, ich sah gelegentlich sogar Fahrer, die beim Kurvenfahren die Arme verkreuzten, weil sie die Hände am Rad nicht versetzten“) und Schalten („Das Schalten in der Abwärtsfahrt muß frühzeitig und flott erfolgen, damit der Wagen nicht ins Laufen kommt. In stärkeren Gefällen ziehe man für die Dauer des Schaltvorganges die Handbremse so fest an, daß der Wagen nicht durchgehen kann“) erhalten. Nun ja, jeder hat doch mal unkundig angefangen; auch der Papi hat beim Bergradeln erst mit den Jahren vieles dazugelernt. Gerne bekunden der Papi und ich unseren Respekt vor der technischen Entwicklung – sowohl im Fahrzeug- als auch im Straßenbau. Aber denkt bitte trotzdem stets daran, was es physikalisch bedeutet, etwa mit einem 2 Tonnen schweren Fahrzeug bei 12 Prozent Steigung durch die Passkurven zu donnern! Zwar gelten nur wenige Ausführungen in diesem Abschnitt heute noch uneingeschränkt – aber das (Kühl)wasser beginnt nach wie vor in 2.000 m Höhe bereits bei etwa 85 Grad zu kochen und ein Motor in derselben Höhe erbringt nur noch 77 Prozent seiner Nennleistung. Ich fürchte, der Papi ist dann immer schon bei unter 40 Prozent (und bei 38,5 Grad)!

Chad (links) wirft seinen Schatten auf die Route de Combe Laval im Vercors: Grad hab
ich ihm erklärt, dass auch der Papi schon durch das kleine Felsenloch geradelt ist.

„Die Hochstraßen der Alpen“ sind eine herrliche und nostalgisch stimmende Fundgrube. Der Papi und ich lesen und erfahren, wie es früher und noch früher in den Alpen war. Heute sind viele der damals in nahezu himmlischer Ruhe genießbaren Hochpunkte oft völlig überlaufen. Heute sind viele Streckenführungen massenverkehrstauglich ausgebaut – obschon bereits Kurt Mair zu seiner Zeit des Öfteren den Verlust an Ursprünglichkeit so mancher Pass- oder Schluchtstrecke durch ihren Ausbau bedauert. Heute gibt es zu praktisch allen Passstrecken teils vorzügliche Informationen im Internet und gar oft sehenswerte Youtube-Videoclips. Heute findet Ihr Euren Weg meist mittels Satellitennavigation und mit Ansage! Aber heute halten der Papi und ich – angesichts der weitverbreiteten Raserei und des Immer-schneller-ankommen-Wollens – eine frühe Vorschrift aus der Schweiz mehr denn je für gar nicht so verkehrt: „Als man einzelne Paßstraßen für Kraftfahrzeuge freigab, wurden in der Form von Minimalzeiten für die Bewältigung der Pässe Höchstgeschwindigkeiten vorgeschrieben. Man erhielt Zeitkarten beim Beginn des Paßaufstieges und man durfte nicht vor bestimmten Zeiten die Paßhöhe und die jenseitige Talsohle erreichen.“ Da hätte der Papi mit seinem Fahrrad wahrlich gute Karten! Leider spielten Radfahrer zu Kurt Mairs Zeiten kaum eine Rolle und bleiben im Buch nahezu unberücksichtigt („Durch diese Schlucht kam Rommel, der spätere Feldmarschall, im Herbst 1917 mit einer württembergischen Radfahrabteilung …“).

Es geht um schöne, manchmal auch spannende und abenteuerliche Tourenerlebnisse in den Alpen. Diese Alpen sind nicht nur aus meiner Bärenperspektive ein immens großes Gebiet. So vieles lässt sich entdecken! Kurt Mair nimmt uns alle mit auf Entdeckungs- und Erinnerungstour. Grad zeigt mir der Papi zum Beispiel die ausführliche Beschreibung zur „Königin der Alpenstraßen“, also zum 2.758 m hohen Stilfser Joch/Passo dello Stelvio. Alle paar Jahre kommt der Papi auch dort oben mit dem Fahrrad an, mal von Süden, mal von Norden – mit immer mehr Erinnerungen im Gepäck und immer mehr Wehmut im Herzen: Ob es wohl das letzte Mal gewesen sein wird?

Natürlich haben der Papi und ich die 7. mit der 5. Auflage verglichen. Es gibt nur ganz wenige Änderungen; die schönste Ergänzung ist aus Papis Sicht das 2.172 m hohe Limojoch in den Dolomiten. Das Fürstentum Liechtenstein wird erst in der 7. Auflage mit mehr als nur einem Wort erwähnt, und der 1957 in Bau befindliche Sylvensteinspeicher ist inzwischen (1959) fertiggestellt worden. Beide Auflagen sind nahezu perfekt lektoriert. Doch auffälligerweise hat keiner in der 7. Auflage „ein fanz einfaches Rezept“ (S. 12) geändert, ebenso verblieben unter anderem die Schreibung „Innzell“ (S. 75) und der unglückliche, da faschistische Kartentext „Salabertano“ statt „Salbertrand“ (S. 440). Doch darüber regt sich nach fast 60 Jahren höchstens noch einer auf … Entschuldigung, lieber Papi! Von mir aus ist jedenfalls längst verziehen, dass das erste Foto mit dem Titel „Die östliche Pasubio-Straße“ (S. 265) in Wahrheit – der Papi erkannte das als „Augenzeuge“ – die westliche Pasubio-Straße zeigt. Immerhin wurde zwischen 1957 und 1960 bemerkt, dass „das Sträßchen vom Ammersee nach Griesen“ in Wahrheit der Weg „vom Plansee nach Griesen“ war (S. 83).

Der vorliegende Klassiker (als Zugabe mit einer nachgedruckten Alpenstraßenkarte aus dem Jahr 1930 und einem Aufkleber der Großglockner-Hochalpenstraßen aus dem Jahr 1957) sei Euch allen wärmstens empfohlen – vielleicht auch als willkommenes Weihnachtsgeschenk für begeisterte Alpenfahrer? Ein kleines Manko will ich aber ohne Umschweife nennen: Speziell der direkte Vergleich zeigt, dass die Bildqualität im Reprint bedauerlicherweise nicht an die Originalausgabe heranreicht.

Licht am Ende des gekrümmten (!) Tunnels gibt es erst wieder nach 850 Metern: der östliche Eingang
der Galleria dei Saraceni auf dem Weg zum Monte Jafferau (2.801 m; September 2010).

Was mir noch zu sagen bliebe: „Die Hochstraßen der Alpen“ sind ein Vermächtnis: Denn 1957, also im selben Jahr, als die 5. Auflage erschien, ist Kurt Mair plötzlich gestorben! Deswegen liest sich sein Schlusssatz aus dem Vorwort für uns zwei sehr traurig: „Ich würde mich freuen, von den Lesern dieses Buches ergänzende Hinweise über eigene Beobachtungen und Erfahrungen zu erhalten.“ Wahrscheinlich hätte ihm der Papi damals so manches geschrieben, zumindest grummelt er mir manchmal ein paar Fragen zu: Warum wird die einzigartige Südrampe auf den Col de Nivolet (2.612 m) nicht genannt, obwohl sie laut italienischem Wikipedia-Eintrag bereits 1931 errichtet worden war? Warum erwähnt Kurt Mair die Bauarbeiten für den von 1955 bis 1959 errichteten Staudamm in der Vajont-Schlucht mit keinem Wort (über diesen Staudamm und seine traurige Geschichte habe dafür ich umso ausführlicher berichtet!)? Wenn auch nachvollziehbar jeglicher Hinweis auf die erst 1962 in Betrieb genommene Straße zum Colle Sommeiller fehlt, zu jener Zeit führte aber doch ein schmaler Fahrweg bis zum Rifugio Scarfiotti, oder?

Je nun, wenn der Papi und ich grad schon beim Mäkeln und Mosern sind: Warum ist auch von den Bauarbeiten für den von 1955 bis 1961 errichteten Staudamm (124 m hoch, 630 m lang: Europas größter Erddamm!) des 20 km langen und bis zu 120 m tiefen Lac de Serre-Poncon in den französischen Westalpen nirgendwo die Rede? Dessen rund 29 Quadratkilometer große Wasserfläche hat doch nicht nur den Papi (trotz einer Brücke im Norden) schon manchen Umweg gekostet … Und so hinreißend Kurt Mairs ausführliche Schilderung der vielen Gefahren des Gaviapasses (2.621 m) auch ist, vermisst hat der Papi eindeutig die Erwähnung des schwersten Unglücks an jenem Ort: Am 20. Juli 1954 kam ein Lastwagen der italienischen Armee vom ausgesetzten Weg ab und stürzte in die Tiefe, 18 Soldaten sind dabei um ihr meist blutjunges Leben gekommen. (Schon mehrmals stand der Papi vor der Gedenkstätte, einmal sogar nach einem Schneesturm. Oh, es gäbe so viele Geschichten zu erzählen!) Die Indizienkette ist lang, ein Verdacht liegt nahe, die Kernfrage lautet: Hatte Kurt Mair das erst 1957 im Verlag Richard Carl Schmidt & Co. Braunschweig erschienene Buch bereits Mitte 1954 zu Ende geschrieben? Dem ewigen Wert seiner Aufzeichnungen täte das nicht den geringsten Abbruch!

Oh, hier erklingen jetzt Namen wie Musik im Radio: „Wintersperre haben: Croix de Fer, Iseran, Izoard, Restefond/La Bonette …“ Ob Ihr etwa dem Papi im nächsten Jahr irgendwo in den Alpen begegnen werdet? Jedenfalls wünsche ich ihm und Euch allzeit gute Fahrt! Und denkt öfters an Kurt Mairs Motto: „Was allein zählt, ist das eigene Erkunden.“ Herzlichst, Euer Bryan.

PS: Wenn Ihr Euch für Fotos aus der Anfangszeit des motorisierten Tourismus im Hochgebirge interessiert, empfehle ich Euch selbstverständlich auch das Buch „Alpenstraßen damals“ aus dem Denzel-Verlag. Es ist 2010 in 2. Auflage erschienen, zeigt in bester Qualität 353 Schwarz-Weiß-Bilder und kostet 29,90 Euro. Ach ja, noch etwas: Allein das nationale Autobahnnetz der Schweiz (es gibt auch kantonale Autobahnen) ist zurzeit rund 1.420 km lang – und wird weiter ausgebaut.