Mensch des Monats

Das Eis und ich, wir schmelzen: Stéphane Lambiel!

„Du Stéphane, hast Du mal ’ne Pirouette für mich?“ „Ja Bryan,
für Dich eine mit extra viel Feuer!“ Das ist mein Traum.

Zu seinen vielen glühenden Verehrern gehöre natürlich auch ich. Während der Papi langsam vom Sommer träumt, gehe ich für meinen Mensch des Monats-Beitrag doch glatt nochmal aufs blanke Eis. Erinnerungen werden wach und Euer Bryan denkt zum Beispiel an die letzten Europameisterschaften im estländischen Tallinn und erst recht an die Olympischen Winterspiele in Vancouver im Februar zurück. Gebannt saß ich vor dem Bildschirm, denn ER war wieder da: der wunderbare Schweizer Eislaufkünstler Stéphane Lambiel gab sein sportliches Ich-komm-Zurück. Im Oktober 2008 war der zweimalige Weltmeister verletzungsbedingt zurückgetreten, mit nur 23 Jahren. Bei seinem Comeback hat es für Stéphane leider nicht ganz nach oben gereicht: bei der EM wurde er Zweiter, in Kanada Vierter. Und wohl niemals wieder werden wir ihn bei Wettkämpfen sehen. Das hat freilich auch sein Gutes, denn nach seinen Wettkampf-Stürzen war ich immer sehr geknickt.

Früher stand auch der Papi gerne auf Schlittschuhen. Aber nach einem halben Rittberger und einem viertelten Axel war es vorbei mit seiner Eiskunstlaufkarriere. Beim blutjungen Stéphane sah das ganz anders aus. Ihr sollt ruhig wissen, ich habe seit vielen Jahren die sportliche Karriere dieses Ausnahmekünstlers verfolgt. Ich schätze es nämlich sehr, wenn ein sympathischer und zielstrebiger Mensch mit viel Charisma und Wandlungsfähigkeit in die Höhe springt und sich kunstvoll drei- oder viermal um die eigene Achse dreht. Und wenn auch Ihr mal eine seiner Pirouetten gesehen habt, werdet Ihr mir vielleicht beipflichten: Niemand dreht sich so schön im Kreis wie Stéphane. Und wenn ein so außergewöhnliches Talent über viele Monate hinweg stundenlang täglich diszipliniert trainiert, dann kann ich ja wohl mal zehn Minuten im Jahr zugucken kommen!

Die Wahrheit: Er kennt den Lutz, er kennt den Axel,
jedoch den Bryan kennt er nicht! Übrigens, geht
es vielleicht noch theatralischer? (Foto: ISIFA)

Mein Mensch des Monats April (jaja, jetzt ist doch schon wieder Mai geworden …) wurde am 2. April 1985 in Martigny geboren. Es gibt ihn also bereits ein Vierteljahrhundert lang! Als Sohn seiner aus Portugal stammenden Mutter und eines Schweizers wuchs er im Wallis heran, mit seiner drei Jahre älteren Schwester Silvia und etwas später auch mit seinem vier Jahre jüngeren Bruder Christophe. Als Fünfzehnjähriger nahm Stéphane erstmals an einer europäischen Eislaufmeisterschaft teil und wurde Zehnter. Doch all seine sportlichen Ergebnisse sind auch für mich letztlich Nebensache. „Wenn du auftrittst, will man dir einfach zusehen – ganz egal, ob alles gelingt“ – dieses Kompliment eines Fans hat Stéphane im Jahr 2008 besonders gut gefallen. In einem Interview sagte der Künstler: „Die Leute sind auf dem Eis mit mir. Und diese Energie aus dem Publikum spüre ich. Am schlimmsten ist es, wenn die Halle halb leer ist, wie beim Kurzprogramm bei den Europameisterschaften im Januar in Zagreb.“

Für den ehrgeizigen Stéphane war der bereits erwähnte Rücktritt im Oktober 2008 ein konsequenter Schritt: Eine schwere Verletzung an den linken Adduktoren (das sind laut Eurem Duden Muskeln, die „das Heranziehen einer Gliedmaße zur Körperachse hin bewirken“) hatte über Wochen hinweg kein hundertprozentiges Training mehr zugelassen, Chancen für einen Titelgewinn sah Stéphane nicht mehr und meinte: „Ich hoffe, dass man versteht, dass ich nach dem Gewinn von zwei Weltmeistertiteln und einer Silbermedaille bei Olympia nichts anderes als Goldmedaillen anvisieren wollte.“

Ja! (Turin, im Dezember 2007; Foto: flickr.com)

Nicht nur die Schweizer Presse bedauerte seinerzeit den Schlussstrich des achtfachen Landesmeisters: „Das Ende seiner Amateurkarriere bedeutet für den Eiskunstlauf-Sport einen herben Verlust. Lambiel war einer der wenigen Läufer, dem es nicht nur primär darum ging, möglichst viele Punkte zu sammeln, sondern der das Publikum unterhalten wollte. Bestes Beispiel dafür war seine in den letzten beiden Saisons gelaufene Flamenco-Kür, die ein wahres Kunstwerk war. Der zweifache EM-Silbermedaillengewinner betrieb dafür einen immensen Aufwand.“ Die Fans im Internetforum wurden deutlicher: „Lambiel ist ein Künstler. Vielleicht zeigt er uns ja in Zukunft seine wunderbare Kunst in mehr als nur einem Song! Ich wünsche ihm ein Eis-Theater oder Ähnliches, wo sich seine Ideen jenseits vom Wettkampf-Druck aufs Schönste entfalten mögen!“ (Lisa); „Was für ein Verlust für den Eiskunstlauf! Er war einer der wenigen, die das Publikum zum Träumen bringen vermochten. Ich wünsche ihm alles Gute und habe großen Respekt vor seiner Entscheidung“ (Linda); „Schade, es trifft immer die Falschen. Lambiel ist ein Sportler mit einer großen menschlichen Seite. Er ist trotz seiner Erfolge immer auf dem Boden geblieben“ (Oter) war da zu lesen. Ein Verehrer (Ruedi) war besonders weise: „Na ja, nebstdem Lambiel ein Ausnahmesportler ist, zeichnet er sich doch auch durch viele Irrungen, Wirrungen, Impulsivität, Meinungswechsel aus. Da ist langfristig gesehen das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen.“

Wandlungsfähig, ausdrucksstark
und sympathisch: also ich mag
den Stéphane sehr! (Foto: ISIFA)

No ja, und im Juli 2009 war es tatsächlich so weit: Stéphane erklärte seine gesundheitlichen Probleme für beherrschbar. Der Traum vom olympischen Gold war stärker als der Schmerz, die Motivation zum harten Training wiedergekehrt. Doch leider hat es am Ende nicht so richtig geklappt, Stéphane trug zwar die Fahne für sein Land, erntete ansonsten aber nur Blech. Wenige Tage nach dem Wettkampf äußerte er sich trotzdem zufrieden und schrieb im Journal seiner Homepage: „It was through these Olympics that I developed the discipline to take care of myself seriously. A year ago, I was hoping to be able to come back to the highest level. My only goal was to compete in Vancouver; I came back for the Olympics and for the Olympics only. It was my choice and I have absolutely no regrets. I’m extremely satisfied that I was able to fight as I did. This chapter of my life is now behind me and I’m very happy and proud of everything I was able to fulfil during my career as a competitive skater. Now it’s time for me to show the rest of the world what I have inside me, it’s time to show the artist in me and I will continue to skate as long as my body allows me to. Figure skating is my life and I want to share that with all of you.”

So jung aber wird er nie mehr sein: Stéphane mit etwa 17 Jahren. (Foto: flickr.com)

Also ich wär da gern dabei. Aber wie geht es jetzt konkret weiter? Euer Bryan hofft ganz fest, dass sein weiterer Lebensweg sowohl den Stéphane selbst als auch seine Fans glücklich machen wird. Mit magischen Momenten, wundervollen Erlebnissen … Stéphane ist so bezaubernd, und er ist so gut. Gewiss mit guten Gründen hat er schließlich 2005 in Moskau als erster Schweizer Eiskunstläufer nach 57 Jahren die Weltmeisterschaften gewonnen. Da war er der einzige Läufer, dem in der Kür zwei fehlerfreie vierfache Toeloops gelangen. Trotz einer Außenbandüberdehnung am rechten Knie gewann er dann im Februar 2006 bei den Olympischen Spielen in Turin die Silbermedaille. In seiner Olympiakür zeigte er erstmals eine fehlerfreie Vierfach-Toeloop/Dreifach-Toeloop-Kombination. Und mir wird mal wieder ganz schwindlig … Zumal er kurz danach in Calgary mit neuer persönlicher Bestleistung seinen Weltmeistertitel souverän verteidigen konnte!

Unter uns gesagt, ich finde, Stéphane ist das beste Beispiel dafür, dass sich Exaltiertheit (dieses Wort klingt viel freundlicher als „Hysterie“ oder „Überspanntheit“, oder?) und ein freundlich-gewinnendes Wesen sehr gut zusammenfügen können. Und im Gegensatz zu den exaltierten S-Bahn-Fahrgästen, die den armen Papi fast tagtäglich nerven, hält Stéphane wenigstens den Mund … Allerdings vielleicht nicht mehr lange: Denn nicht nur ich sehe seine Zukunft nicht ausschließlich auf dem Eis, in der Choreographie und im Modedesign, sondern vielmehr in der Schauspielerei. Stéphane ist nun mal sehr einfühlsam („Es gibt viele Läufer, die verstehen gar nichts von ihrer Musik, sondern zeigen einfach die Elemente. Das macht mich wütend. Ich finde, wenn man kein Gefühl für die Musik hat, kann man kein Eiskunstläufer sein. Doch die Preisrichter schauen oft nur auf die Details und wissen nicht, worauf es wirklich ankommt“)!

Vancouver/Ammersee, 18. bzw. 19. Februar 2010:
„Du Papi, kannst Du mich mal trösten? Der
Stéphane hat grad sein Comeback versemmelt.”

Relativ klein, aber absolut oho: Der 1,75 Meter große Lausanner steht freimütig zu seinem Hang zur Selbstdarstellung. So sagte er 2008 der Zeitschrift „Le Matin“: „Mich reizt die Schauspielerei, die Bühne, die Aufmerksamkeit der anderen. Ich mag es, Menschen zum Lachen oder zum Weinen zu bringen. Den Drang, mich zu zeigen, hatte ich schon vor meiner Karriere. Ich tanzte zu Michael Jackson, bevor ich Schlittschuh lief.“ Freilich, auf die Frage, was für Rollen er gerne spielen würde, sagte er nach meinem Empfinden Grausliches: „Einen Bösen, einen Verrückten, einen Kranken. Sweeney Todd, den Barbier, der Kinder umbringt.“ (Sweeneys Geschichte wurde 2007 mit Jonny Depp verfilmt!) Euer Bryan will das gar nicht glauben. Aber Stéphane war wohl so richtig in Fahrt: „Es gibt nicht nur Nettes an mir. Wir haben alle auch eine aggressivere Seite. Es gibt Tage, an denen ich traurig bin, cholerisch, glücklich. Ich bin da häufig in den Extremen.” Ganz schön sprunghaft, dieser Eiskunstläufer – du meine Güte, da hilft offenbar kein Johanniskraut mehr. Sondern nur viel Liebe. Und sollte Stéphane nicht auf jeden Fall mit einer sympathischeren Rolle beginnen? Zum Beispiel als melancholisch-trauriger Herzensbrecher, der zu Hause mit einem netten Teddybären spricht? Ich wüsste sogar schon, mit welchem …